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Unterwegs mit allen Sinnen

Auf den ersten Blick sieht ein „Erfahrungsfeld der Sinne“ wie ein großer Abenteuerspielplatz aus. Abenteuer sind dort tatsächlich zu erleben, doch dahinter steckt ein spannendes Konzept, wie wir beim Besuch im Welzheimer Wald erfahren haben.

Der „Wunderweg“ ist ein Weg zum Staunen. Ein Kronleuchter aus bunten Flaschen hängt in den sonnenbeschienenen Waldbäumen, glitzert und funkelt im Licht. Aber warum wohl haben manche der Bäume eine weiße Binde auf den Stamm gemalt? Noch dazu auf verschiedenen Höhen? Das hat sich auch die Versicherungskauffrau Gabriela gefragt – und dann erfahren, dass manches auf dem Weg erst Sinn ergibt, wenn man vom gewohnten Pfad abweicht. Aber dazu später …

Der Wunderweg, ein fünf Kilometer langer Pfad, beginnt im Zentrum des Parks „Eins+Alles – Erfahrungsfeld der Sinne“ in Welzheim bei Stuttgart und führt tief in den Wald. Vorbei an Klanghölzern, die in einem Rahmen oben in einer Baumkrone aufgehängt sind und das vielstimmige Gezwitscher der Vögel um eine ganz eigene Klangwelt erweitern. Entlang an Balancierhölzern, die zwar nicht hoch über dem Boden angebracht, aber doch eine Herausforderung für das Gleichgewicht sind. Für Kinder ist es selbstverständlich, den festen Boden zu verlassen, eine eigene Balance Schritt für Schritt auszutarieren und nach geschaffter Strecke strahlend abzuspringen. Erwachsene kostet es hingegen oft Überwindung. Auch Gabriela war schon lange nicht mehr auf einem schmalen Holzbrett unterwegs. Ein paar Mal gerät sie auf der Zickzack-Strecke ins Straucheln. Egal, der Waldboden darunter ist weich.

Die Komfortzone verlassen und die Wahrnehmung schulen

Sich überwinden, die eigene Komfortzone verlassen und brachliegende Fähigkeiten wiederzubeleben – das gehört zum Konzept der Erfahrungsfelder, wie sie Hugo Kükelhaus in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts entwickelt hat. Der Tischler und Philosoph hielt nicht viel von der wachsenden Bedeutung der Technik in der Lebenswelt seiner Zeit: „Großtechnische Entwicklung beschränkt menschliche Wahrnehmung auf bloße ‚Kopfarbeit‘“, so die Einschätzung des 1900 geborenen Universalisten. Er wollte etwas dagegensetzen: „Nur die Entfaltung unserer Sinne wie Riechen, Fühlen, Schmecken, Hören und Sehen sowie stetes Einüben in das Gleichgewicht des Körpers vermögen diese Zerstörung des Menschen aufzuhalten.“ Stationen in der Natur sollten die Sinne schulen und die Wahrnehmung herausfordern. Damit hat Kükelhaus Wegmarken gesetzt, an denen sich viele Sinnenparks und Erfahrungsfelder bis heute orientieren.

Auch Dieter Einhäuser hat sich von Hugo Kükelhaus‘ Ideen inspirieren lassen. In der Abgeschiedenheit des Welzheimer Walds, genauer, in der Laufenmühle, entwickelte er vor 15 Jahren das „Eins+Alles – Erfahrungsfeld der Sinne“. Der Heilerziehungspfleger und Kaufmann war als Leiter in die abgelegene Behinderteneinrichtung gekommen, die damals kurz vor dem Aus stand, und suchte fortan nach einem Weg, die Impulse der Welt in die Laufenmühle zu bringen. Dem spirituellen Mentor Kükelhaus wird im „Eins+Alles“ mit einem überlebensgroßen Holzkopf gehuldigt, einem geschnitzten Porträt vor dem Eingang in das Haupthaus, das den Namen Rote Achse trägt.

Heute arbeitet ein Teil der Menschen mit Behinderung sozusagen als Dienstleister für die Erfahrungswelt. Zum Beispiel in den Garten- und Holzwerkstätten auf dem Gelände. Rund 100 Stationen und Land-Art-Objekte können die Besucher erkunden. Sie sind aus natürlichen Materialien wie Holz, Schnur oder Weidenzweigen gefertigt – und müssen deshalb immer wieder ersetzt oder ausgebessert werden. Auch als Pfleger für die Lamas, Esel, Ziegen und Schafe in der Tier­oase und als Besucherbetreuer sind die Männer und Frauen mit Handicap eingebunden. 130 Bewohner werden in der Lebens- und Arbeitsgemeinschaft betreut, rund 100 000 Besucher pro Jahr kamen vor der Pandemie in das ästhetisch ansprechende Erfahrungsfeld der Sinne.

Am Summstein lässt sich das Hören im Körper erfahren 

Das Zusammenspiel von Behinderteneinrichtung und Sinnengarten im Welzheimer Wald ist nicht ungewöhnlich: Es gibt deutschlandweit gar nicht wenige solcher Erfahrungsfelder oder Sinnengärten in therapeutischen Einrichtungen, die sich auf die Ideen von Kükelhaus beziehen. Das ist kein Zufall: „Im Kern sind die Menschen gleich, ob sie eine Behinderung haben oder nicht“, sagt Daniela Doberschütz, leitende Mitarbeiterin der anthroposophisch geprägten Einrichtung in Welzheim. „Hier können sie sich begegnen und Erfahrungen für die Sinne machen, die nachwirken.“

Die Sinne müssen angeregt, trainiert und geschult werden, damit sich der Mensch – und nicht nur das Kind – gesund entwickelt und im Einklang mit seiner Umgebung steht. Für dieses „Sinnentraining“ hat Kükelhaus unterschiedliche Objekte entwickelt. Etwa den Summstein: einen Steinblock mit einer großen Öffnung, in die man seinen Kopf stecken kann. Das eigene Summen wird darin zum wohltuenden Vibrieren, das den ganzen Körper mit Resonanz erfüllt.

Lesen Sie mehr darüber in Ausgabe 4/2022 von natürlich gesund und munter.

Foto: sonicbox / iStock.com