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Können wir unser Gehirn auf Resilienz trainieren?

In schwierigen Zeiten ist sie besonders wichtig – die innere Kraft, die uns Herausforderungen bestehen und ein gutes Leben führen lässt, trotz allem. Die Resilienz-Expertin Dr. Donya Gilan erforscht, was wir selbst tun können, um diese Kraft in uns wachsen zu lassen.

Dr. Donya Gilan

Im Jahr 1982 in Teheran geboren, emigrierte Donya Gilan 1986 mit ihren Eltern nach Deutschland und wuchs in Mainz auf. Nach Studium und Dissertation
im Fach Psychologie an der Universität Frankfurt folgte die Ausbildung zur Verhaltenstherapeutin. Bis zum Jahr 2014 verantwortete Dr. Donya Gilan den Bereich „Resilienz & Gesellschaft“ am Leibniz-Institut für Resilienzforschung (LIR) gGmbH in Mainz. Derzeit leitet sie die Transkulturelle psychiatrische Ambulanz an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Mainz, wo sie belastete Menschen mit Fluchterfahrung und Migrationshintergrund berät. Zusammen mit ihrer Kollegin Dr. Isabella Helmreich hat sie das Buch „Resilienz – die Kunst der Widerstandskraft. Was die Wissenschaft dazu sagt“ veröffentlicht (Herder Verlag).

Seit Jahren türmen sich um uns herum immer mehr Krisen auf: Kriege mit Eskalationsgefahr, globale Machtverschiebungen, soziale Spannungen, dazu Dürren, Brände, Überflutungen und der fortschreitende Verlust von Ökosystemen. Wie schaffen wir es, trotz der zunehmenden Bedrohungen und der wachsenden Ungewissheiten unser Vertrauen in die Zukunft nicht zu verlieren? natürlich gesund und munter hat mit  der Psychologin und Resilienzforscherin Dr. Donya Gilan gesprochen. Sie ist Expertin für den Themenkomplex Anpassung an Krisen und neue Lebensumwelten – und sie rät dazu, gerade in Zeiten der Wirren und Umbrüche immer wieder neue Bahnen einzuschlagen.

Frau Dr. Gilan, angesichts der zunehmenden Krisen wird seelische Widerstandsfähigkeit immer wichtiger, um sich auf Unberechenbarkeiten und Risiken einzustellen und an neue Situationen anzupassen. Kann uns die Resilienzforschung dabei helfen?

Dr. Donya Gilan: Die psychologische Resilienzforschung befasst sich seit einem halben Jahrhundert mit der Frage, wie Menschen trotz vielfältigster Belastungen gesund bleiben und ein gutes Leben führen können. Zu Beginn der Forschungen verstand man unter Resilienz ein stabiles Charaktermerkmal. In den letzten Jahren  betrachtet man Resilienz vor allem als Ergebnis eines Anpassungsprozesses beziehungsweise als dynamischen und lebenslangen Prozess selbst, der im Wechselspiel zwischen einer Person und ihrer Umwelt stattfindet. Resilienz als Ergebnis wird vermutlich durch eine Vielzahl (neuro-)biologischer, psychologischer und sozialer Ressourcen, so genannter Resilienzfaktoren, beeinflusst. In diesem Sinne könnten auch natürliche Veranlagungen beziehungsweise Eigenschaften der Persönlichkeit zu Resilienzfaktoren gezählt werden.

Das klingt nun eher so, als könnte man selbst gar nicht viel für die eigene Resilienzentwicklung tun.

So sollte man das nicht sehen. Bislang wurden zahlreiche potenzielle Resilienzfaktoren untersucht, die mit der erfolgreichen Anpassung an einen Stressauslöser assoziiert sind. Sowohl interne Ressourcen wie beispielsweise Bewältigungsstile, kognitive Fähigkeiten, Genetik und Epigenetik als auch externe Ressourcen wie etwa sozioökonomischer Status oder soziale Unterstützung können Resilienz als Ergebnis begünstigen. Besonders erwähnen möchte ich hier eine wichtige Theorie, die Positive appraisal style theory of resi­lience. Sie postuliert, dass ein positiver Bewertungsstil im Fall potenziell bedrohlicher oder negativer Reize und Situationen einen Schutzfaktor darstellt. So könnte zum Beispiel eine starke soziale Unterstützung dazu beitragen, dass man Stressauslöser positiver bewertet beziehungsweise umbewertet. In der Folge wird Re­silienz gefördert, was sich auch in einer geringeren Anfälligkeit für stressbedingte Erkrankungen äußert. Grundsätzlich gilt die Unterstützung durch andere Menschen als einer der wichtigsten und am besten belegten Resilienzfaktoren.

Welche dieser Faktoren können wir aktiv stärken?

Den konstruktiven Umgang mit Mikrostressoren, also den täglichen kleinen und größeren Herausforderungen des Alltags, kann man erlernen und üben. Auch der Glaube an sich selbst – wir sprechen von Selbstwirksamkeitserwartung – ist trainierbar. Er ist einer der stärksten Schutzfaktoren, denn er motiviert, Probleme anzugehen und sich auch von Rückschlägen nicht entmutigen zu lassen. Eng verwandt mit der Selbstwirksamkeit ist das Selbstwertgefühl. Förderlich ist hier vor allem die Stärkung der positiven Selbstzuwendung, indem man sich in Achtsamkeit und Selbstfürsorge übt, also sich um sich selbst gut kümmert und Dinge unternimmt, die Spaß machen oder entspannen.

Sind bestimmte Resilienzfaktoren in krisenhaften Zeiten besonders wichtig?

Hier gibt es kein Ranking, denn es ist extrem schwierig, Resilienzfaktoren einzeln zu betrachten und ihren Anteil bei der Anpassung an Stressoren zu gewichten. Wir wissen, dass viele der Resilienzfaktoren miteinander assoziiert sind oder interagieren. Was in krisenhaften Zeiten definitiv wichtig ist, ist das, was wir Ungewissheits- oder Ambiguitätstoleranz nennen. Das ist kein Resilienzfaktor, sondern eine Fähigkeit, die bei schnellen Umbrüchen hilft, Unsicherheiten aushalten zu können. Diese Kompetenz müssen wir wirklich stark üben. Sie ist nicht unbedingt unsere Lieblingskompetenz, wir haben sie wenig gebraucht, weil wir sehr lange Zeit sehr gut gelebt haben. Über Jahrzehnte sah es so aus, als ginge für uns alles immer im vertrauten Modus weiter. Dann kam die Pandemie, daneben wurden der Klimawandel und das Artensterben deutlicher spürbar, und seit mehr als zwei Jahren findet nun ein Krieg quasi vor unserer Haustür statt.

Haben wir in der Pandemie nicht schon ein Stück weit lernen müssen, mit viel Unsicherheit zurechtzukommen?

Durchaus. Viele Menschen haben sich in dieser Zeit mit ihrer Psyche auseinandergesetzt und mit ihrer Stressbewältigung, und sie haben durch Grenzerfahrungen gelernt, sich umzustellen und neue Handlungsmöglichkeiten zu finden. Es hat auch ein gesamtgesellschaftlicher Lernprozess stattgefunden.

In Ihrem Buch „Resilienz – die Kunst der Widerstandskraft“ verweisen Sie auf die philosophischen Vorläufer der Resilienzforschung, darunter die Schulen der Epikureer und Stoiker, deren Weltanschauungen in Zeiten politischer Wirren und militärischer Auseinandersetzungen entstanden sind. Was können wir von ihnen lernen?

Für beide Denkschulen gilt die Seelenruhe als Kennzeichen eines gelungenen Lebens. Während Epikur die Seelenruhe aus dem sinnlichen Empfinden ableitet und in seinen Augen derjenige das größte Wohlleben erfährt, der am wenigsten beansprucht, sollte man nach der stoischen Lehre seinen Gefühlen mit großem Bedacht begegnen, was durch Selbstkontrolle und Selbststeuerung erlangt wird. Der späte Stoiker Epiktet betonte zudem, wie wichtig es sei, zwischen beeinflussbaren und nicht beeinflussbaren Dingen zu unterscheiden: „Über das eine gebieten wir, über das andere nicht.“ Übertragen in die heutige Zeit könnte man es gleichsetzen mit: annehmen, was ist, ohne es gutheißen zu müssen. Sich über Jahre hinweg auf Dilemmata zu konzentrieren, die man nicht ändern kann, bedeutet einen sehr starken Ressourcenverlust, der zu chronischen Symptomen führen kann.

In jüngster Zeit ist das Gehirn als „Resilienzorgan“ in den Fokus der Forschung gerückt. Wie können wir diesem Organ etwas Gutes tun?

Indem wir uns klarmachen: Das, was uns durch den Kopf geht, hat große Macht über unsere geistige Verfassung, unseren Körper und unsere Verhaltensweisen. Es ist wichtig zu überlegen, womit man sein Gehirn beschallt. Manche Nachrichten kann man nicht abwehren, aber man kann Akzente und ein Zeitlimit setzen. So kann man versuchen, positiv in den Tag einzusteigen und am Ende des Tages versöhnlich abzuschließen. Man kann sich morgens erfreuliche Aspekte vor Augen führen, angefangen von guten Wetteraussichten über ein geplantes Essen mit Freunden oder den Nachklang eines schönen Konzerts. Am Abend sind es vielleicht die Dinge, die überraschend gut gelaufen sind, ein Gespräch, das hoffnungsvolle Impulse gesetzt hat oder worin sich eine gute Portion feiner Humor verbarg. Den Fokus auf positive Aspekte zu lenken, muss man regelmäßig üben, vergleichbar einem Muskeltraining.

Welche Rolle spielt das Gehirn bei der Stressbewältigung und beim Umgang mit Ungewissheiten?

Ganz zentral für jeden Anpassungsprozess ist die kognitive Flexibilität. Die lässt sich täglich trainieren, auch in ganz kleinen Schritten: beim Zähneputzen nicht die dominante Hand nehmen, beim Treppensteigen nicht mit dem dominanten Bein beginnen. Genau wie unsere Muskeln braucht auch unser Gehirn regelmäßige Bewegung. Mentales Training gibt es in verschiedenen Formen und Größen. Ob Puzzles, Malen, Denksportaufgaben, Rätsel oder Strategiespiele, das Erlernen eines Musik­instruments oder einer neuen Sprache – das Gehirn wird angeregt, neue Nervenbahnen zu bilden, und das steigert die kognitive Flexibilität.

Also immer wieder raus aus vertrauten Bahnen?  

Ja. Versuchen Sie, sich von Routinen zu lösen und Ihre Komfortzone zu verlassen. Das kann auch bedeuten, eine neue Küche auszuprobieren, einen unbekannten Ort zu besuchen oder einfach den Weg zur Arbeit zu ändern. Die Begegnung mit Neuem und Unvorhersehbarem fördert die Anpassungsfähigkeit – ein Schlüsselaspekt der kognitiven Flexibilität.

Ausgerechnet in belasteten Zeiten neue Wege gehen zu sollen, könnten manche Menschen als sehr anstrengend empfinden …

Untersuchungen legen nahe, dass auch Achtsamkeit und Meditation die kognitive Flexibilität verbessern können. Indem wir uns auf den gegenwärtigen Moment konzentrieren und ihn ohne Wertung akzeptieren, hilft uns Achtsamkeit, aus gewohnheitsmäßigen Denkmustern auszubrechen. Das fördert Aufgeschlossenheit und die Fähigkeit zum Perspektivwechsel, beides entscheidende Komponenten der kognitiven Flexibilität. Und nehmen Sie eine Wachstumsmentalität an, also entwickeln Sie die Überzeugung, dass Ihre Fähigkeiten durch Anstrengung und Übung verbessert werden können. Eine wachstumsorientierte Denkweise ermutigt dazu, Herausforderungen als Lernchancen zu sehen.  

Welchen Einfluss haben Ernährung, Schlaf und Bewegung auf die kognitive Flexibilität?

Sich mit Achtsamkeit den Bedürfnissen des eigenen Körpers zu widmen, ist extrem wichtig für die Resilienz­ausbildung. Die Themen Nahrung, Schlaf und Bewegung sind in den letzten Jahren leider stark in den Hintergrund gerückt, weil die psychologischen Aspekte so intensiv behandelt werden. Doch wir sollten die Kraft eines gesunden Lebensstils nicht unterschätzen. Regelmäßige Bewegung, eine ausgewogene Ernährung und ausreichender Schlaf wurden in Studien mit einer besseren kognitiven Flexibilität in Verbindung gebracht. Insbesondere körperliche Bewegung steigert die Durchblutung des Gehirns und unterstützt so die Entwicklung neuer neuronaler Verbindungen.

Heißt das: Wer schon lange achtsam und gesundheitsbewusst lebt, kommt leichter mit Ungewissheit und Wandel zurecht?

Sehr wahrscheinlich. Die Verbesserung der kognitiven Flexibilität durch die aufgezählten Punkte ist keine Aufgabe über Nacht – sie erfordert konsequente Anstrengung und Übung. Aber mit diesen Strategien können wir unser Gehirn trainieren, agiler, anpassungsfähiger und belastbarer zu sein und sich so besser im sich ständig verändernden Labyrinth des Lebens zurechtzufinden.

Hilft uns die Gewissheit, dass wir in dieser Ära der Polykrisen und der Instabilität nicht allein sind?

Kollektive Schutzfaktoren wurden lange Zeit in der psychologischen Resilienzforschung nicht so stark fokussiert. Aber mit Beginn der Pandemie zeigte sich besonders deutlich, dass im Kollektiv wertvolle Schutzfaktoren zu finden sind, die ein Mensch allein für sich gar nicht entwickeln kann. Das sind Faktoren wie Solidarität, Kultur, Religion, Sozialisation, Gemeinschaftsorientierung. Man hat sehr gut feststellen können, dass Menschen, die sich in einer Gruppe befinden, ob durch soziale Medien vereint oder durch Treffen in Präsenz, eine soziale Identität entwickeln. Diese Identifikation lässt ein kollektives Wirksamkeitsgefühl entstehen: „In der Gruppe oder mit der Gruppe kann ich Unsicherheiten besser bewältigen.“ Dieses Gefühl führt letztendlich nachweislich zu einem besseren Wohlbefinden.

Für eine kontinuierliche Resilienzausbildung sind also Gemeinschaft und Austausch unersetzlich?

Das ist unbestritten. Wie elementar „Wir“-Werte wie Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Solidarität, Empathie und Hilfsbereitschaft sind, wurde in Zeiten der Selbstverwirklichung und Selbstoptimierung schlicht übersehen und hat dementsprechend wenig Wertschätzung erfahren. Doch gerade unter schwierigsten Bedingungen entwickeln Menschen ein Wir-Gefühl und sind dann sehr viel schneller bereit und in der Lage, Verhaltensänderungen zu vollziehen. Deshalb rate ich: Priorisieren Sie Beziehungen, die Ihnen guttun, und pflegen Sie sie. Akzeptieren Sie Hilfe und Unterstützung, das stärkt Ihre Belastbarkeit in schwierigen Situationen. Seien Sie für andere da, wenn sie Sie brauchen. Engagieren Sie sich in Gruppen oder Vereinen.

Während der Corona-Pandemie hörte man oft  den Satz „Ich will, dass alles wieder normal wird!“ Viele sagen jetzt: Das neue Normal ist die Unsicherheit.

Wenn man in die Menschheitsgeschichte blickt, so war es eher die Ausnahme, jahrzehntelang in Frieden, Fortschritt und Wohlstand zu leben. Zur Realität unseres Daseins gehören Krisen, Konflikte und Verwerfungen. Das schnelle Zurückkehren in die „Normalität“, also den Ausgangszustand beziehungsweise die gewohnte Funktionsfähigkeit, wird in der Resilienzforschung als bounce back (wörtlich übersetzt: zurückspringen) bezeichnet. Der erweiterte Resilienzbegriff des „bounce forward“ beschreibt dagegen die Krise als eine Chance, um Wachstum und Fortschritt zu generieren und gesellschaftliche Transformationsprozesse anzustoßen. Es lohnt sich, immer auch auf die Errungenschaften durch Krisen zu blicken. / Das Gespräch führte Doro Kammerer

Diesen Beitrag lesen Sie in unserem Magazin natürlich gesund und munter 03/2024

 

Foto: Studio LÊMRICH