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„Männer, nehmt eure Krisen wahr!“

Sie sind verletzlicher, als sie denken, und gehen zu oft achtlos mit sich selbst um: Männer. Begründet ist das in gesellschaftlichen Erwartungen, sagt Dr. Matthias Stiehler. Der Experte für Männergesundheit weiß aber auch, wie Männer lernen können, besser für sich selbst zu sorgen.

Dr. Matthias Stiehler

Der Theologe und Erziehungswissenschaftler (Jg. 1961) war langjähriges Vorstandsmitglied der Stiftung Männergesundheit und leitet das Dresdner Institut für Erwachsenenbildung und Gesundheitswissenschaft. Er war Initiator und Mitherausgeber des „Ersten Deutschen Männergesundheitsberichts” (2010) und zweier weiterer Ausgaben dieser Bestandsaufnahmen zu dem, was Männer körperlich und seelisch gesund hält und krank macht. Er bietet Männergruppen und, zusammen mit seiner Frau Sabine, Paarberatung an. Zu seinen zahlreichen Publikationen zählen „Der Männerversteher. Die neuen Leiden des starken Geschlechts“ (2010) und zuletzt „Partnerschaft ist zweifach. Wie sich Paare finden und was sie zusammenhält“ (2023).

Noch immer haben Männer hierzulande eine um fast fünf Jahre niedrigere Lebenserwartung als Frauen. Sie gehen seltener zum Arzt, erkranken häufiger an Zivilisationskrankheiten, verhalten sich riskanter, haben mehr Unfälle und sterben häufiger gewaltsam. Die Stiftung Männergesundheit mit ihren mittlerweile fünf Männergesundheitsberichten will dem entgegenwirken. Aber was sind die Gründe des achtlosen Umgangs von Männern mit ihrem eigenen Wohlbefinden, der ihre Partnerinnen oft ratlos lässt? Der Dresdner Paarberater und Männergesundheitsforscher Dr. Matthias Stiehler macht tradierte Rollenbilder in Gesellschaft und Familie verantwortlich. Und er sieht die Väter in der Pflicht, sich um ihre Söhne zu kümmern und deren Nöte wahrzunehmen. Davon, glaubt er, könnten sie auch selbst profitieren.

Herr Dr. Stiehler, wenn wir von Gendermedizin reden, geht es meist darum, dass gesundheitliche Beschwerden von Frauen nicht hinreichend oder falsch erkannt werden, weil Diagnostik und Behandlung sich am männlichen Körper ausrichten. Der Mann gilt als Normalfall. Wozu braucht es eine geschlechtersensible Medizin eigens für Männer?

Dr. Matthias Stiehler: In der Medizin gibt es auch eine Männerblindheit. Gerade weil der männliche Körper als Normalfall angesehen wird, wird die Spezifik dieses Körpers oft nicht betrachtet. So gibt es bis heute kein vernünftiges Screening des Prostata-Karzinoms.

Angemessene Behandlung braucht zunächst ein Leitbild. Wie definieren Sie einen gesunden Mann?

Das hängt davon ab, welche Form von Gesundheit Sie meinen. Körperlich gesund ist er, wenn er keine Krankheiten und keine Beschwerden hat. Aber wenn Sie vom gesunden Mann sprechen, denke ich als Sozialwissenschaftler nicht nur an den Körper, sondern frage, wie sich ein Mann zu seiner Gesundheit verhält. Dazu gehört für mich, dass Männer zu ihren Stärken stehen, aber nicht so tun, als hätten sie keine Schwächen. Solche Männer sind meines Erachtens schwache Männer, da sie Angst vor ihren Schwächen haben. Und das ist ein zentrales Thema in der Männergesundheit. Wie gehe ich damit um, dass ich, wenn ich zum Arzt zur Vorsorgeuntersuchung gehe, eventuell etwas Problematisches erfahren werde? Will ich überhaupt über mich Bescheid wissen, oder verschließe ich lieber die Augen, bis es nicht mehr geht?

Es hat sich herumgesprochen, dass Männer wenig auf sich achten, sich ungesund ernähren, dass sie nicht oder zu spät zum Arzt gehen, dass sie höhere Risiken eingehen, auch körperlich, was gerade jüngere Männer betrifft. Welchen Einfluss haben Rollenbilder und gesellschaftliche Erwartungen?

Risikoverhalten ist ein zentrales Thema in der Männergesundheit. Unter jungen Männern ist etwa die Todesrate durch Verkehrsunfälle deutlich höher als bei Frauen. Herzinfarkte und andere Erkrankungen, die mit dem Lebensstil zusammenhängen, sind im Durchschnitt bei Männern deutlich häufiger als bei Frauen. Männer sind eher auf Verschleiß ausgerichtet. Nach dem Motto: „Was kümmert mich, was morgen ist?“

Die Frage ist, woran das liegt.

Die Männer wollen sich nicht per se schaden, sondern wir wissen aus der Gesundheitswissenschaft, dass Risikoverhalten immer auch Bewältigungsverhalten ist. Das heißt, es muss etwas bewältigt werden, um zu einem vermeintlich oder real besseren Leben zu kommen. Es klingt paradox, aber dieses  gesundheitsschädigende Verhalten soll eigentlich der Erhaltung der eigenen Gesundheit dienen.

Das müssen sie erklären.

Dieser Zusammenhang ist natürlich kein objektiver Tatbestand, sondern das Gefühl des Einzelnen: Was brauche ich, um im Leben zu sein, um den Anforderungen zu genügen? Männer haben an sich die hohe Erwartung, möglichst immer zu funktionieren. Die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen, zu den Besten zu gehören. Das ist ein narzisstischer Wettbewerb. Sie sind Funktionäre in dem Sinn, dass sie funktionieren wollen. Zum Beispiel habe ich dann Bedeutung, wenn ich auf der Arbeit gut funktioniere. Da verlieren Männer schnell sich selbst und ihre Gesundheit aus dem Blick. Und dieser Stress wird dann auch über Risikoverhalten kompensiert.

Gilt dieses Männerbild denn noch? Sie beschäftigen sich seit mehr als zwei Jahrzehnten mit dem Thema Männergesundheit und dem Bewusstsein für das eigene Wohlbefinden. Beobachten Sie da keine Veränderungen zum Positiven?

Durchaus. Nehmen Sie nur die aktive Vaterschaft. Es gibt mehr Männer, die ihr Vatersein aktiver angehen, auch wenn da längst noch nicht Gleichberechtigung herrscht. In der DDR war in den alternativ-akademischen Kreisen schon in den Achtzigerjahren aktive Vaterschaft ein Thema. In den alten Bundesländern ist zwar das Ein-Ernährer-Modell noch fester verwurzelt, aber es greift heute ja schon materiell nicht mehr. Durch die wirtschaftlichen Zwänge wird man faktisch genötigt, ein bisschen mehr Egalität auch in die Familienarbeit zu bringen. Das halte ich schon für positiv auch für die Männergesundheit.

Warum? Familienarbeit kann doch auch Stress sein.

Wenn Männer beispielsweise mit ihren Kindern zum Arzt gehen, könnte das ihre Einstellung zu eigenen Arztbesuchen verändern. Dazu gibt es noch zu wenige Untersuchungen, aber die Frage interessiert mich: Wie wirkt es sich auf meine eigene Gesundheit aus, wenn ich mich um andere, um meine Kinder kümmere? Studien haben vor Jahren schon festgestellt, dass sich bei vielen Frauen die Doppelbelastung durch Beruf und Familie gesundheitlich nicht so negativ auswirkt wie angenommen, weil für sie zu dieser Care-Arbeit, also zum Sich-Kümmern um andere, auch gehört, dass sie sich um sich selbst kümmern.

Damit stehen dann aber auch immer mehr Männer vor der Herausforderung, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen ...  

... und leider erleben wir, dass Arbeitgeber bei Männern weniger Verständnis haben, wenn die Elternzeit nehmen wollen, als bei Frauen. Da sind wir wieder bei den gesellschaftlichen Erwartungen, die sich dringend ändern müssten.

Immerhin in der Werbung fällt auf, wie sich in den letzten 20, 30 Jahren das dort transportierte Männerbild geändert hat. Da geht es viel um Fitness und darum, auf sich zu achten und sich etwas Gutes zu tun.

Ja, schauen Sie sich in einer Drogerie um, da gibt es mittlerweile große Regale mit Männer-Pflegeprodukten, weil die Kosmetikfirmen wissen, dass es einen Bedarf gibt. Mehr Männer achten auf Selbstpflege, und zumindest ein Teil der Männer ernährt sich auch gesünder.

Umfragen und Studien der letzten Zeit deuten allerdings darauf hin, dass ein hoher Anteil junger Männer weiterhin von körperlich wie psychisch „ungesunden“ Leitbildern geprägt ist. Die Vorstellung, Männer müssten äußerlich stark sein, sie müssten sich auch mal was zumuten, scheint immer noch zu wirken. Und nicht nur ältere, auch viele junge Männer zögern Arztbesuche hinaus und warten erstmal ab, ob es nicht von allein besser wird.

Das stimmt, und das lässt sich auch nicht so einfach ändern. Mir begegnet in den Paarberatungen immer wieder, dass Männer sich extrem schwer damit tun, Hilfe anzunehmen. Zugeben zu müssen, dass sie an bestimmten Stellen schwach sind, vielleicht krank, das empfinden sie als Niederlage. Klar, es gibt immer noch zu wenig Kapazitäten in der Männermedizin, aber die Selbstverständlichkeit, mit der Frauen einmal im Jahr zur Frauenärztin gehen, die haben die Männer einfach nicht. Früher war wenigstens die Musterung noch eine Gelegenheit, einen Arzt zu sehen, aber das ist auch weggefallen. Männer gehen häufig allerdings auch deshalb nicht zum Arzt, weil ihnen das Zutrauen fehlt, dass ihnen tatsächlich geholfen wird.

Wie ist es denn überhaupt möglich, Männer für ihr eigenes Wohlergehen zu interessieren?

Die Ansprache muss ein Stück weit aus ihnen selbst heraus entstehen, denn so lange es den Männern gut geht, sind sie schwer zu erreichen.  Für mich ist der zentrale Spruch: Männer, nehmt eure Krisen wahr. Die körperlichen wie die seelischen Krisen, sei es gesundheitlich, in der Partnerschaft oder in Freundschaften. Das ist der Ansatzpunkt. Es muss aber auch Angebote geben.

Worin könnten diese Angebote für Männer bestehen? Vorsorgekampagnen, mehr gesundheitliche Aufklärung?

Vor allem erreichen Sie die Männer da, wo sie sind, nämlich bei der Arbeit. In vielen Berufen wird auf Verschleiß gefahren, und gerade da ist betriebliche Gesundheitsförderung ein Punkt, der Männer anspricht.  Zum Beispiel Projekte, bei denen der Arbeitgeber auf Baustellen ein Training anbietet, mit dem Verspannungen reduziert werden. Das muss ein ganz konkretes Angebot speziell für die jeweilige Berufsgruppe sein.

Täuscht mich mein Eindruck, oder sind Männer auch mit digitaler Technik zu einem gesünderen Lebensstil zu motivieren, mit Fitnessarmbändern und Apps etwa?

Ja, denn die haben unter anderem den Vorteil, dass Männer ihre sportlichen Leistungen kontrollieren können, ohne in den Vergleich mit anderen zu kommen, wie etwa im Vereinssport. Man tritt da in Wettbewerb nur mit sich selbst, und das motiviert. Man muss nur aufpassen, dass man es nicht übertreibt.

Was kann denn schieflaufen, wenn ein Mann nun tatsächlich gesünder leben, sich besser ernähren und mehr bewegen möchte?

Dass man sich gleich wieder im Leistungsgedanken verfängt und zu wenig auf sich achtet. Wenn es allein um Körperoptimierung geht und nicht um das Wohlfühlen, kann es schnell problematisch werden. Auf mich zu achten, weil ich mich selbst wertschätze, das ist der Punkt. Mit „Sei’s dir wert“ spricht man Männer auch im positiven Sinne an, nicht mit den negativen Botschaften, „du machst zu wenig, du kümmerst dich zu wenig um dich“.

Aus der Sicht ihrer langjährigen Praxis als Paarberater: Jenseits der Klischees von „Männergrippe“ und „Fleisch ist mein Gemüse“ – wie können Partnerinnen im Hinblick auf das Wohlbefinden und das Gesundheitsbewusstsein ihres Mannes unterstützend wirken?

Ein Thema der männlichen Sozialisation, die Abgrenzung vom Zugriff der Mutter, kann sich in der Paar­beziehung wiederholen:  Je mehr die Frau will, dass der Mann sich um seine Gesundheit kümmert, desto mehr innere Widerstände werden erzeugt. Deswegen spreche ich eher die Männer an und sage: „Männer, achtet auf euch, macht nicht, was von euch verlangt wird, sondern guckt selbst, was für euch gut ist.“ Und als Partnerin kann man dem Mann sagen: „Ich will dich, und das möglichst lange. Ich will dich zu nichts drängen. Mir liegt an dir.“ Das wäre eine positive Botschaft. Negative Botschaften kriegen Männer und Jungen eh viel zu viel – und schotten sich dagegen ab.

Müsste sich nicht vielleicht auch in der Medizin etwas ändern? Wie können Ärzte und Ärztinnen ihren männlichen Patienten so begegnen, dass diese erst einmal Zutrauen fassen?

Die Medizin spiegelt ein gesamtgesellschaftliches Phänomen wider, nämlich eine grundsätzlich kritische Haltung gegenüber Männern. Die hat oft auch ihre Berechtigung, aber sie ist in der gesellschaftlichen Diskussion zu einseitig. Für Männer wie für Frauen ist es wichtig, mit den eigenen Bedürfnissen wahrgenommen zu werden, Achtung zu erfahren. Wenn ich zu einer Vorsorgeuntersuchung gehe und vom Arzt achtlos behandelt werde, dann gehe ich da nicht mehr hin. Es geht auch hier um Wertschätzung. Psychische Erkrankungen werden bei Männern nicht ausreichend erkannt. Da wird dann signifikant häufiger gesagt, „Reißen Sie sich mal zusammen!“ Männer werden oft erst dann als krank wahrgenommen, wenn sie körperliche Symptome haben, und nicht auch schon vorher.

Sollten Ärzte also öfter nachfragen, was womöglich hinter so einem körperlichen Symptom stecken könnte?

Ja. Das gilt zwar für Männer wie Frauen gleichermaßen. Aber Männer ziehen sich eher in sich zurück, wenn sie unter Stress stehen, wenn sie unzufrieden sind und es ihnen nicht gut geht. In Diskussionen um Frauen­gesundheit, wird – völlig zu Recht – immer die gesellschaftliche Dimension mitbetrachtet. Bei der Männergesundheit wird gern ein bisschen hämisch so etwas gesagt wie „Die Ärmsten!“ Leider ist in der hausärztlichen Praxis für solche Nachfragen in der Regel zu wenig Zeit. Das ist auch deshalb eine verpasste Chance, weil sich die Geschlechterrollenbilder vor allem in Beruf und Karriere zunehmend angleichen – und damit die Verhaltensweisen. Die Folge sehen wir bereits bei der Lebenserwartung, da ist der Unterschied geschrumpft und schrumpft weiter. Aber die gesundheitlichen Risiken gleichen sich dabei eben auch an.

Das Gespräch führte Julia Schröder

Diesen Beitrag finden Sie in unserem Magazin natürlich gesund und munter 04/2024

 

Foto: Privat