Veränderung setzt Zukunftskräfte frei

Gelassenheit lernen, statt sich von der Weltlage überfordert zu fühlen. Ruhe bewahren, wenn es schwierig wird. Wie gelingt das? Die Buchautorin Pamela Rath plädiert für die Kunst des Aushaltens und erklärt im Gespräch, warum es sich gerade angesichts vielfältiger Krisen lohnt, offen zu bleiben und neue Freiräume zu entdecken.
Pamela Rath
Geboren 1975 im österreichischen Linz lebt die Expertin für Arbeits- und Organisationspsychologie heute in Wien. Sie versteht sich als Philanthropin und intersektionale Feministin, setzt sich für Diversität und FemaleLeadership ein und hat sich intensiv damit beschäftigt, wie wir auf Veränderungen und Krisen reagieren – als Individuen und als Gemeinschaft. Zuletzt erschien ihr Buch „Die Kunst des Aushaltens“ (Kremayr & Scheriau).
natürlich gesund und munter: Frau Rath, Sätze wie „Ich halte das alles nicht mehr aus ...“ fallen derzeit ziemlich oft, richtig?
Pamela Rath: So ist es. Und wann benutzen wir sie? Dann, wenn wir uns ohnmächtig fühlen gegenüber den Umständen, der Veränderung. Wenn die Welt, wie wir sie kennen, sich in einer enormen Geschwindigkeit in eine neue Richtung dreht und wir nicht mehr hinterherkommen. Dabei legt Veränderung auch ungeahnte Kräfte für die Zukunft frei. Die Philosophin Natalie Knapp beschreibt solche Übergänge als „poetische Zonen des Lebens“ – kreative Freiräume, in denen das Leben besondere Kraft entfaltet und Chancen zur Weiterentwicklung bietet.
Ist es derzeit nicht mehr als verständlich, sich überfordert und belastet zu fühlen? Klingt der Verweis auf „Chancen“ in Anbetracht der vielen globalen Krisen nicht fast wie Hohn?
Ich weiß, was Sie meinen, ich kenne dieses Gefühl der Überforderung ja selbst. Und gleichzeitig erinnere ich mich daran, dass schon meine Großmutter diesen Satz gesagt hat: „Ich halte das alles nicht mehr aus…“ Manche legen noch einen drauf. Sinngemäß: „Ich sag dir eins, die Welt steht nimmer lang.“
Wollen Sie die Weltlage relativieren, nach dem Motto: alles halb so wild?
Ums Relativieren geht es mir nicht. Mich beschäftigt die Frage, wie wir mit Veränderungen leben können. Wie wir offen für immer neue Lernerfahrungen bleiben. Ergebnisoffen. Aushalten ist ein aktiver Prozess. Ich bin nicht ausgeliefert, nicht in einem statischen Zustand gefangen. Ich nehme die Welt um mich herum als etwas wahr, was sich im Wandel befindet, ich spüre diese Dynamik.
Aber was heißt „ergebnisoffen“ genau?
Ergebnisoffenheit bedeutet, dass bestimmte Aspekte des Lebens sich in eine Richtung bewegen, die im Moment noch nicht vorherzusehen ist. Es kann negative, aber auch positive Auswirkungen geben. Es ist wichtig, beides in Betracht zu ziehen. Öffnen wir uns dem ganzen Spektrum der Möglichkeiten. Lassen wir gedanklich zu, dass das, was da gerade passiert, auch zu etwas Gutem und sogar zu einem Besseren führen kann.
Warum tun wir uns damit so schwer?
Ein Problem ist sicher das Glücksverständnis moderner Gesellschaften. Wir gehen davon aus, dass Glück mit Komfort zu tun hat. Mehr noch: Wir glauben, das Glück ließe sich konsumieren. Sobald irgendetwas unangenehm wird, neigen wir dazu, uns aus der Situation zu flüchten. Oder wir versuchen, die negativen Gefühle durch irgendetwas zu überdecken, zu kompensieren.
Wie ist das bei Ihnen? Steuern Sie an dieser Stelle gegen? Bleiben Sie ganz bewusst, wenn es unangenehm wird? Und wie machen Sie es?
Nun, wir führen dieses Gespräch in einem thailändischen Restaurant. Wenn es etwas gibt, das ich überhaupt nicht mag, dann ist es Koriander. Aber in der Suppe, die ich vor mir stehen habe, ist das Gewürz drin. Im Moment halte ich den Koriander aus. Ich bemühe mich, mich nicht von meinem Ablehnungsgefühl überwältigen zu lassen. Das funktioniert, wenn ich die Dominanz des Korianders nicht zulasse. Ich kann versuchen, dem Gehirn zu sagen, dass es das unangenehme Geschmackserlebnis neutralisieren soll.
Und das macht Sinn?
Ich finde ja. Denken Sie an die Schmerztherapie. Auch dabei geht es ja oft darum, den Fokus zu verschieben und anders wahrzunehmen. Das Schmerz-
erleben lässt sich so nachweislich verändern. Das Faszinierende ist: Wir können jederzeit beginnen, etwas zu verändern und mehr Selbstermächtigung zu erlangen. Wir Menschen sind unglaublich lernfähig. Denken Sie nur an einen Säugling. Wie quälend es für Neugeborene mit ihrem unfassbar empfindlichen Darm ist, zu pupsen. Jeder Wind ein schlimmer Schmerz. Aber von Tag zu Tag wird es besser. Das Wissen „ich hab’s ausgehalten, ich bin nicht daran zugrunde gegangen“ hilft. Jugendliche mit Liebeskummer glauben, sterben zu müssen. Sie denken das wirklich. Als Erwachsener weiß man es besser.
Nach dem Prinzip „Was mich nicht umbringt, macht mich härter“?
Das trifft es für mich nicht. Vielmehr geht es für mich beim Aushalten darum, nicht so sehr in den Widerstand zu gehen, nicht zu kämpfen. Ich selbst bin seit einiger Zeit in den Wechseljahren und habe mit Hitzewallungen zu tun. Wenn eine kommt und ich mich innerlich dagegen auflehne, geht es mir besonders schlecht. Oder nehmen Sie das Thema chronische Erkrankungen. Zahlreiche Studien zeigen, dass Menschen im hohen Alter deutlich glücklicher sind als Menschen in der Lebensmitte. Und das, obwohl viele von ihnen unter mindestens einer chronischen Erkrankung leiden.
Was ist das Geheimnis? Die Zähne zusammenbeißen? Brauchen wir mehr Disziplin?
An der Stelle lohnt sich ein Blick in die Sprachwissenschaft. Der Duden bietet 58 Synonyme für das Wort „aushalten“ an. Die beliebtesten sind unter anderem „bewältigen“, „sich fügen“, „hinnehmen“, „ertragen“, „durchhalten“. Das geht also alles in Richtung Ihrer Frage. Bei meinen Recherchen zu dem Wort bin ich aber auch über die sprachwissenschaftliche These gestolpert, dass die Wurzel des Wortes „halten“, mit der von „hüten“ zu tun hat. Wir halten, behalten, behüten. Halten öffnet bei genauerer Überlegung faszinierende Möglichkeiten. Halten kann die körperliche Entscheidung sein, sich nicht mehr zu bewegen. Ich kann einen Ball halten, bevor er ins Tor gelangt. Halten ist eine aktive Handlung, bei der ich eine Entscheidung treffe. Noch einmal: Ich selbst halte die dynamische Komponente, unseren aktiven Anteil am Geschehen, für entscheidend.
Kritiker würden sagen, das sei Schönfärberei. Müssen wir uns arrangieren damit, dass täglich Tausende Jobs wegfallen? Was ist mit dem Klimawandel?
Die derzeitige Veränderungsgeschwindigkeit ist enorm, keine Frage. Aber schauen wir genauer hin. Im Bereich Job etwa. Richtig ist, dass neue Technologien einen großen Einfluss auf den Wegfall von Arbeitsplätzen haben. Gleichzeitig sind sie zahlreichen Studien zufolge auch Treiber für die Entstehung neuer Jobs. Der Mensch hat die kognitiven Fähigkeiten, mit Veränderung umzugehen. Wir können uns fragen: Wo sind unsere Möglichkeiten, wo befindet sich der Handlungsspielraum? Im Gegensatz zu Tieren oder Pflanzen können wir das Aushalten aktiv betreiben. Aushalten ist eine Kulturleistung.
Die Veränderungen durch Kriege und Klimawandel sind da. Jetzt sind Anpassungsleistungen gefragt.
Aber was nützt uns das, wenn immer mehr Lebensräume verloren gehen?
Am Beispiel des Klimawandels wird die Bedeutung des Aushaltens für mich besonders deutlich. Ich habe den Eindruck, dass wir hier im Moment noch zu viel Kraft in den Widerstand geben. Diese Energie würde eigentlich woanders gebraucht.
Nämlich?
Ich glaube, dass wir an einem Punkt sind, an dem wir uns mehr mit dem Thema Anpassung beschäftigen sollten. Nicht, dass ich die klimatischen Veränderungen gutheißen oder gar sagen wollte „alles easy, leben wir halt damit“. Die Kriege und Katastrophen, vor denen wir stehen, hätten wir zwar nicht passieren lassen dürfen. Aber jetzt sind sie da, wir können die Veränderung nicht mehr rückgängig machen. Jetzt geht es um die Frage, wie wir mit den neuen Verhältnissen zurechtkommen können. Mit den klimatischen und auch mit den wirtschaftlichen und den sozialen.
Aber hat „anpassen“ nicht etwas von „aufgeben“?
Verstehen Sie mich nicht falsch, natürlich sind Anstrengungen gegen den Klimawandel unbedingt notwendig. Die Anpassungsleistungen müssen parallel geschehen. Ohne bewusstes Aushalten wird das nur sehr schwer möglich sein.
Manche passen sich den dramatischen Umständen durch Rückzug an. Stichwort Cocooning: Die Welt da draußen spielt verrückt, aber in den eigenen vier Wänden habe ich es schön. Was halten Sie davon?
Ich finde das nachvollziehbar. Der Rückzug ins kuschelige Nest ist ein Schutzmechanismus und im Sinne von Selbstermächtigung durchaus legitim.
Sie klingen ein wenig zögerlich?
Naja, auf Dauer ist der Rückzug nicht ideal. Wir sehen zunehmend Menschen, die sich nicht mehr am demokratischen Diskurs beteiligen. Wenn ich mich dauerhaft in meinem Schutzraum aufhalte, kann ich nicht gestalten. Ich würde sagen, das Aushalten ist der bessere Weg. Zumindest mittel- und langfristig.
Geht es darum, dass wir resilienter werden?
Resilienz ist für mich mehr eine Eigenschaft und hat damit viel mit der Persönlichkeitsstruktur zu tun. Beim Aushalten dagegen geht es darum, den eigenen Handlungsspielraum zu begreifen. Schauen Sie, aushalten ist ein Verb. Resilienz ist ein Substantiv. Im Verb liegt etwas Dynamisches, Aktives. Bei der Resilienz, der Widerstandsfähigkeit, schwingt für mich immer ein bisschen die Idee mit, sich immunisieren zu wollen. Als wollten wir ohne Schrammen davonkommen. Wenn wir aushalten, nehmen wir dagegen in Kauf, verletzt zu werden, Narben davon zu tragen. Das kann uns im positiven Sinne sensibel und empathisch machen. Ich glaube, es ist entscheidend, ob wir meinen, etwas aushalten zu müssen. Dann ist das Aushalten schwer. Oder ob wir etwas aushalten wollen. Dann geht es leichter. Kennen Sie Glynn Simmons?
Nein ...
Er wurde in den USA nach knapp 50 Jahren aus dem Gefängnis entlassen, weil seine Unschuld bewiesen wurde. Wie hat er die Zeit der ungerechtfertigten Inhaftierung ausgehalten? Das Foto seiner Entlassung zeigt einen gesunden älteren Mann. Er lächelt, er ist offenbar in einem psychisch und physisch stabilen
Zustand geblieben.
Haben Sie eine Vermutung, weshalb es Simmons vergleichsweise gut geht?
Ich glaube, dieses „Ich muss“ ist bei ihm irgendwann leise geworden. Sehen wir Aushalten als Spektrum zwischen Motiv und Sinn. Als eine Brücke zwischen dem Warum und dem Wofür. Vermutlich ist es Simmons eher um ein Aushalten der Symptome gegangen als um ein Aushalten der Ungerechtigkeit.
Und wie lässt sich so etwas konkret lernen?
Indem wir uns Veränderungen mit Abstand anschauen und rausgehen aus unseren spontanen Impulsen. Ich bin sicher, der Mensch, der im Alter glücklich ist, tut das. Mag sein, dass der Alltag hier und da beschwerlich ist. Aber beim Blick auf das große Ganze sieht er etwas anderes. Den Reichtum des Lebens vielleicht.
So weit muss man allerdings erst mal kommen…
Aber das ist ja wie gesagt das Tolle: Wir können jeden Tag neue Lernerfahrungen machen, dank derer uns das Aushalten besser gelingt. Bildlich gesprochen: Es ist okay, wenn der Gummiring sich dehnt, er sollte nur immer wieder in seinen Ausgangszustand zurückgehen. Problematisch wird es, wenn die Dehnung zum Dauerzustand wird. Oder wenn das Band zu
reißen droht. Machen wir uns bewusst: Jede Anpassungsleistung ist eine Lernleistung.
Aushalten bedeutet nicht aufgeben. Im Gegenteil. Es geht vor allem darum, handlungsfähig zu bleiben.
Das heißt?
Die Mutter zweier kleiner Kinder ist im Moment vielleicht wahnsinnig belastet, weil die Wäsche sich türmt, das Telefon klingelt, und dann hat der Jüngere auch noch einen Trotzanfall. Eine Situation, die einen an den Rand bringen kann. Aber die junge Frau weiß: Später, wenn die Kinder im Bett sind, regeneriere ich mich. Das und dazu vielleicht das Wissen um die schönen Momente mit den Kindern, gibt ihr Kraft. Oder nehmen Sie den Klassiker: die Parkplatzsuche. Sie sind auf dem Weg zu einem wichtigen Termin, alles ist zugeparkt. Aushalten bedeutet in so einem Moment, in der Spannung zu bleiben, aber nicht noch weiter anzuspannen.
Und dann?
Sagt man sich: Ich finde keinen Parkplatz. Punkt. Dann ruft man die Person an, die man treffen wollte, und sagt: „Ich komme später.“ Ich bleibe handlungsfähig, darum geht es. Übrigens: Je nachdem, wie unser Leben bislang lief, sind wir in unterschiedlichen kleinen Bereichen ja alle längst Aushalter und Aushalterinnen. Ich bin sicher, wenn wir uns austauschen, voneinander lernen, dann können wir die Zeitenwende aushalten. Gemeinsam und einzeln.
/Das Gespräch führte Elisabeth Hussendörfer